Produktionsabfälle sind in der Textilindustrie Alltag – doch ihr Potenzial bleibt oft ungenutzt. Ein Pilotprojekt zeigt, wie sich durch systematisches Abfallmanagement, gezielte Materialerfassung und den Einsatz digitaler Tools Ressourcen sichern, Emissionen senken und zirkuläre Prozesse effizient in bestehende Lieferketten integrieren lassen.
Die Textilindustrie steht vor erheblichen Abfallmengen, insbesondere in der Produktionsphase, in der fast die Hälfte der Materialien als Post-Industrial Waste verloren geht. Trotz hoher Qualität und Rückverfolgbarkeit wird dieses Recyclingpotenzial kaum genutzt. Effektives Abfallmanagement, das die Sicherstellung der Rückverfolgbarkeit von Abfällen innerhalb der Produktionsstätte durch einen korrekten Informationsfluss, insbesondere hinsichtlich der Materialzusammensetzung miteinbezieht, ist jedoch entscheidend für den Aufbau zirkulärer Lieferketten. Eine systematische Erfassung und Verwertung kann Ressourcenverschwendung und CO₂-Emissionen reduzieren. Ein unzureichendes Abfallmanagement führt hingegen dazu, dass geeignete Recyclingmaterialien knapp werden. Dadurch zögern Recyclingunternehmen mit Investitionen, weil sie keinen verlässlichen Zugang zu den benötigten Abfallmengen haben.
„Die saubere Trennung und Erfassung von Post-Industrial Waste ist essenziell für effiziente Recyclingkreisläufe.“
„Abfallmanagement muss integraler Bestandteil nachhaltiger Lieferketten werden“, betont Marina Chahboune, Gründerin von Closed Loop Fashion (CLF). „Die saubere Trennung und Erfassung von Post-Industrial Waste ist essenziell für effiziente Recyclingkreisläufe.“ Aus diesem Grund entwickelte CLF den Textile Waste Management Standard (TWMS by CLF), der Standards wie den Global Recycled Standard und das Higg Facility Environmental Module berücksichtigt. Der TWMS umfasst Bewertung, Maßnahmenplanung, Kapazitätsaufbau und Prozessoptimierung und wird durch digitale Tools wie eine App zur Abfallstromerfassung unterstützt.
Ein Public-Private-Partnership-Projekt mit der pakistanischen Fertigungsgruppe H. Nizam Din & Sons Private Limited und Alpinter SA, einem belgischen Distributor für Hilfsgüter, veranschaulicht den Ansatz: Im Fokus stand die Etablierung von Kreislaufwirtschaft im humanitären Sektor. Der steigende Bedarf an Hilfsgütern trifft auf nicht nachhaltige Produktionsweisen mit hohen Emissionen. Gleichzeitig fehlen der Textilbranche geeignete Maßnahmen zur Kreislaufführung. Ziel war daher der Aufbau neuer Infrastrukturen, die durch Recycling von postindustriellen Textilabfällen und die Herstellung vollständig recycelter Decken für Geflüchtete zur Emissionsminderung beitragen.
Eine Lebenszyklusanalyse (LCA) mit Eco Chain identifizierte relevante Umweltbelastungen über den gesamten Produktlebenszyklus „cradle to gate“ hinweg – vom Rohstoff bis zur Verladung im Hafen von Karatschi. Der Fokus lag auf dem Indikator Klimawandel, gemessen in kg CO₂-Äquivalenten. Durch Primärdatenerhebung entlang der Lieferkette konnten zentrale Hotspots bestimmt und fundierte Nachhaltigkeitsentscheidungen getroffen werden. Die LCA ergab, dass Rohmaterialien wie Fasern und Garne mit 68 % den größten Teil des CO₂-Fußabdrucks verursachen, gefolgt von Textil- und Materialproduktion sowie Verpackung (23 %). Entsprechend wurden gezielte Maßnahmen umgesetzt.
Zur Reduktion der rohstoffbedingten Emissionen wurden die Decken neu gestaltet. Ziel war es, den Recyclinganteil für die dreilagige Konstruktion zu maximieren: Die Isolierung besteht zu 50 % aus textilen Produktionsabfällen von Decken und zu 50 % aus GRS-zertifizierter recycelter Polyesterfaser. Das äußere Gestrick wird aus 100 % GRS-zertifiziertem Polyester-Recyclinggarn aus PET-Flaschen gefertigt. Auch das Garn wurde vollständig durch GRS-zertifiziertes Recyclinggarn ersetzt. Dies senkte die Umweltbelastung in diesem Bereich um 66 %. Auch die Verpackung – zweiter Umwelt-Hotspot – wurde im Sinne der Abfallhierarchie überarbeitet: Einwegplastik entfiel, recycelte Materialien kamen zum Einsatz und die Verpackung wurde vereinfacht. Dies reduzierte die Umweltwirkungen um weitere 35 %.
In Summe senkten die oben genannten Maßnahmen den CO₂-Fußabdruck der recycelten Decke im Vergleich zum konventionellen Produkt um 57 %. Pro Decke entspricht das einer Einsparung von 6,5 kg CO₂-e. Hochgerechnet auf eine Million Decken ergibt sich eine Einsparung, die den Emissionen von 515 Weltumrundungen mit dem Auto entspricht. Diese Ergebnisse zeigen deutlich das Potenzial kreislauforientierter Lösungen zur Reduzierung der Umweltwirkungen bei der Herstellung von Katastrophenschutzdecken.
Ein weiteres zentrales Element war die Einführung klar definierter Sammel- und Sortierprozesse direkt an den Produktionslinien. Mitarbeitende wurden speziell geschult, um textile Restmaterialien frühzeitig zu erkennen, korrekt zu kategorisieren und in geeigneten, gekennzeichneten Sammelbehältern zu lagern. Diese Maßnahmen führten nicht nur zu einer Qualitätssteigerung der gewonnenen Sekundärrohstoffe, sondern reduzierten auch ineffiziente Nachsortierungen und damit verbundene Kosten. Darüber hinaus zeigte sich, dass der Aufbau transparenter Materialflüsse entscheidend ist. Das Projekt setzt hierzu auf digitale Lösungen, insbesondere auf die von CLF entwickelte Mapping-App, die eine präzise Erfassung und Nachverfolgbarkeit der Abfallströme ermöglicht. Durch diese Datengrundlage konnten Optimierungspotenziale systematisch identifiziert und dokumentiert werden.
Herausforderungen zeigen sich aktuell noch beim Umgang mit gelagerten Hilfsgütern, wenn sich Produktspezifikationen ändern – etwa bei der Umstellung von konventionellem auf recyceltes Polyester, wodurch Lagerbestände unbrauchbar werden. Dies verdeutlicht die Volatilität der Branche und die Risiken ungeplanter Umweltwirkungen trotz nachhaltiger Zielsetzungen. Derzeit wird an einer weiteren Erhöhung des Recyclinganteils gearbeitet. Ziel ist die Integration von 5-15 % Fiber-to-Fiber-Anteilen im Filament, inklusive der Nutzung von Fasern aus Deckenabfällen – alles unter Einhaltung gängiger Industriestandards. Perspektivisch sollen neben Decken auch weitere humanitäre Produkte wie Zelte einbezogen werden.
„Neben den unmittelbaren ökologischen und ökonomischen Effekten stärkt ein professionelles Abfallmanagement auch die Widerstandsfähigkeit von Organisationen“, sagt Ali Ahmad, CEO von H. Nizam Din & Sons Private Limited. „Lieferketten werden transparenter, Materialverfügbarkeiten planbarer und regulatorische Anforderungen, etwa im Bereich Nachhaltigkeitsberichterstattung, besser erfüllbar.“
Die Auszeichnung des Projekts mit dem Sustainable Initiative of the Year Award von Development 2030 unterstreicht die Relevanz praxistauglicher Ansätze für mehr Zirkularität in komplexen Lieferketten. Unternehmen und Organisationen, die Ressourcen effizienter nutzen und ihre Lieferketten nachhaltiger gestalten wollen, liefert das Projekt einen konkreten Handlungsrahmen: durch klare Sammel- und Sortierprozesse, den Aufbau transparenter Materialflüsse und die gezielte Zusammenarbeit mit lokalen Recyclingstrukturen.
Lisa Wagner arbeitet seit über 20 Jahren in der Modebranche, sowohl auf Industrie-, Agentur- und Redaktionsseite und mehr als die Hälfte davon im nachhaltigen Segment. Zuletzt war sie als Head of Brand Communication beim europäischen Marktführer für ökologisch und sozial fair produzierte Textilien tätig. Seit 2020 arbeitet sie als freie Journalistin und Kommunikationsberaterin in der Nähe von Frankfurt am Main. Wirtschaft, Ökologie und die Interessen unterschiedlicher Stakeholder zu versöhnen, liegt ihr dabei am Herzen. Foto: Nina Paul