Wirtschaft und Gesellschaft befinden sich in einem historischen Wandel, der längst auch die Textil- und Bekleidungsindustrie erfasst hat. Was bedeutet das für Europas überwiegend kleine und mittelständische Unternehmen? Welche Kraftanstrengungen bringen Regulierungen, Digitalisierung und die Suche nach Fachkräften mit sich - und welche Chancen eröffnen sie?
Aufgrund ihrer hohen CO₂-Emissionen, der intensiven Nutzung von Ressourcen, Land und Wasser sowie der sozialen Probleme entlang der Lieferkette steht die Textilbranche mitunter im Fokus von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und Regulierungsbehörden.
Weltweit werden freiwillige Selbstverpflichtungen zunehmend durch verbindliche Vorgaben zur Verbesserung von Umweltstandards, Produktions- und Arbeitsbedingungen, Ressourceneffizienz und Transparenz in der textilen Wertschöpfungskette ergänzt. Dabei steht die Textilindustrie in Bezug auf Nachhaltigkeit und Kreislauffähigkeit vor besonderen Herausforderungen, da ihre komplexe und global diversifizierte Lieferkette die Umsetzung erschwert. Darüber hinaus treiben die Digitalisierung und neue Technologien wie künstliche Intelligenz tiefgreifende Veränderungen voran, während zugleich Handel und Verbraucher*innen zunehmend umweltverträglichere und ethischere Alternativen fordern.
Zwischen Tagesgeschäft und Transformation
Viele Textilunternehmen stehen vor einer doppelten Herausforderung: Einerseits sollen – und wollen – sie in Nachhaltigkeit investieren, andererseits müssen sie in wirtschaftlich schwierigen Zeiten auf zunehmend volatilen Märkten wettbewerbsfähig bleiben. Die Transformation parallel zum Tagesgeschäft gleicht daher für viele einer Operation am offenen Herzen: Während das operative Geschäft weiterläuft, müssen gewachsene Strukturen neu geordnet, Abläufe grundlegend verändert und neue Prozesse etabliert werden, um die immer strengeren Nachhaltigkeitsziele zu erreichen.
Diese Herausforderung betrifft Unternehmen jeder Größe, insbesondere aber die vielen kleinen und mittleren Unternehmen (KMU), die traditionell den größten Teil der Textilbranche ausmachen. So sind laut des europäischen Textil- und Bekleidungsverbandes EURATEX von den 197.000 Unternehmen der europäischen Textil- und Bekleidungsindustrie nur 0,3 Prozent Großunternehmen mit mehr als 250 Beschäftigten – die große Mehrheit mit 99,7 Prozent sind Kleinstunternehmen sowie kleine und mittelständische Unternehmen.1 Diese aber verfügen häufig nur über begrenzte personelle finanzielle und zeitliche Ressourcen, um nachhaltige Technologien und Prozesse in der erforderlichen Geschwindigkeit zu implementieren oder gar ganze Geschäftsmodelle neu auszurichten. Doch auch für sie wächst der Handlungsdruck.
Regulierung als Treiber für die Transformation
Als zentraler Treiber für die Transformation erweisen sich dabei vor allem neue Regulierungen, die die Marktentwicklung entscheidend prägen. Insbesondere die Europäische Union macht der Textilbranche weitreichende Nachhaltigkeitsvorgaben. So werden laut EURATEX allein auf EU-Ebene derzeit mehr als ein Dutzend Initiativen mit Relevanz für die Textil- und Bekleidungsindustrie diskutiert. Sie sollen für verbindliche Sozial- und Umweltstandards sorgen, Textilprodukte langlebiger, reparatur- und recyclingfreundlicher machen, mehr Transparenz und Rückverfolgbarkeit in die textile Lieferkette bringen sowie Produktions- und Verarbeitungsprozesse nachhaltiger gestalten. Zu den wichtigsten Vorhaben zählen die EU-Textilstrategie im Rahmen des Green Deal, die ab 2025 auch die erweiterte Herstellerverantwortung (Extended Producer Responsibility – EPR) vorsieht, sowie die neue EU-Ökodesign-Verordnung, die ab 2025 auch den digitalen Produktpass einführen soll.
Doch nicht nur die EU treibt ambitionierte Nachhaltigkeitsziele voran. Auch die USA, die mit dem Uyghur Forced Labor Prevention Act (UFLPA) gegen Zwangsarbeit in Lieferketten vorgeht, und wichtige Produktionsländer wie China, Indien oder Bangladesch heben ihre Umwelt- und Sozialstandards an. Diese globale Regulierungsdynamik erhöht den Transformationsdruck auf die Textilwirtschaft. Dass dabei auch nationale Gesetze wie das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) Auswirkungen auf den gesamten Lebenszyklus von Textilien – von der Produktion über Transport, Handel und Nutzung bis hin zur Entsorgung – haben können, liegt daran, dass kaum eine Branche so international verflochten ist wie die Textilindustrie. Im Jahr 2022 war der Handel mit Textilien mit einem Gesamtwert von 941 Milliarden US-Dollar der siebtgrößte Handelszweig der Welt und machte rund 4 Prozent des Welthandels aus.2
Digitalisierung als Enabler
Auch die zunehmenden Dokumentationspflichten, die mit den gesetzlichen Vorgaben einhergehen, stellen die Textilunternehmen vor neue Herausforderungen. Erweiterte Nachweispflichten, wie sie beispielsweise der digitale Produktpass mit sich bringen soll, verlangen von den Unternehmen, deutlich mehr Informationen über Materialien, Produktionsprozesse, Arbeitsbedingungen und Umweltauswirkungen zu erfassen als bisher. Unternehmen der Textilbranche müssen nun viel aktiver und tiefer in ihren Lieferketten interagieren. Wenn künftig alle Stationen vom Rohstofflieferanten (TIER 4) bis zum Handel (TIER 0) entlang der textilen Lieferkette transparent dokumentiert werden müssen, fallen gigantische Datenmengen an. Um diese effizient zu erarbeiten, wird die Digitalisierung zum „Enabler“ der textilen Nachhaltigkeitstransformation: Digitale Tools auf Basis von Blockchain, Internet of Things (IoT) und künstlicher Intelligenz (KI) können helfen, die Millionen textiler Datenpunkte entlang der Wertschöpfungskette zu erfassen und zu analysieren. Sie schaffen damit eine wichtige Basis für die damit verbundenen logistischen Erfordernisse und ermöglichen zielgerichtete Investitionen.
Veränderungen von Unternehmensstrukturen und Berufsbildern
Neben den regulatorischen und digitalen Anforderungen stellt die nachhaltige Transformation die Textilunternehmen auch vor personelle Herausforderungen. War Nachhaltigkeit lange Zeit vor allem ein Thema der CSR-Abteilung (Corporate Social Responsibility), betreffen die neuen Umwelt- und Sozialanforderungen heute nahezu alle Unternehmensbereiche – vom Design über Finanzen und Einkauf bis hin zum Marketing. Um die neuen Nachhaltigkeits- und Lieferkettenverpflichtungen zu erfüllen, werden daher in Zukunft alle Abteilungen enger zusammenarbeiten müssen. Damit verändern sich auch die Rollen im Unternehmen – neue Berufsbilder im Nachhaltigkeitsmanagement, in der Materialentwicklung, im Change-Management oder für Circular Design entstehen. Für diese neuen Positionen müssen eigene Mitarbeiter*innen weitergebildet oder neue rekrutiert werden.
Neben traditionellen Textilberufen im Textildesign, in der Konfektion und Verarbeitung müssen außerdem neue Fachkräfte für Zertifizierungsfragen, Automatisierung, Digitalisierung, KI und Datenanalyse gewonnen werden. Bei den „nicht-textilen“ Fachkräften konkurriert die Textilindustrie mit anderen Branchen um die besten Talente. Eine große Herausforderung – aber auch Chance – für eine Branche, in der viele Unternehmen angesichts des demografischen Wandels und veränderter Berufsinteressen junger Menschen aktuell über Personal-mangel klagen. Konkret sind nach Angaben von EURATEX 30 Prozent der derzeit 1,3 Millionen Beschäftigten in der europäischen Textilindustrie über 50 Jahre alt.3 In naher Zukunft steht also ein Generationenwechsel an. Gleichzeitig fällt es vielen Unternehmen schwer, offene Stellen zu besetzen. Laut textil+mode, dem Gesamtverband der deutschen Textil- und Modeindustrie, sind beispielsweise Textilmaschinenführer*innen oder Produktveredler*innen in Deutschland kaum noch zu finden.4 Vor dem Hintergrund der großen Transformation hat die Textilbranche hier die Chance, sich bei jungen Nachwuchskräften als innovativer, nachhaltiger und zukunftsfähiger Arbeitgeber neu zu positionieren.
Vor dem Hintergrund der großen Transformation hat die Textilbranche die Chance, sich als innovativer, nachhaltiger und zukunftsfähiger Arbeitgeber neu zu positionieren.
Die große Transformation als Chance
Technologische Innovationen, digitale Lösungen und neue Regulierungen sind wichtige Treiber der großen Transformation. Der Wandel der Textilindustrie erfordert aber auch ein grundlegendes Umdenken auf allen Ebenen. Der Übergang zu einer nachhaltigen Textilwirtschaft wird nur dann gelingen, wenn sich auch Konsummuster und Wertvorstellungen ändern. Hier findet bereits ein Umdenken statt: Immer mehr Konsument*innen hinterfragen Konzepte wie (Ultra) Fast Fashion und suchen nach langlebigen, nachhaltigen Alternativen. Eine Entwicklung, die sich auch in der Branche widerspiegelt: Immer mehr kleine und große Textilunternehmen setzen sich kritisch mit der eigenen Umweltbilanz auseinander, gestalten ihre Lieferketten um, passen ihre Geschäftsmodelle an und integrieren zirkuläre und regenerative Ansätze. Zwar stehen viele Entwicklungen noch am Anfang, doch erkennen immer mehr Unternehmen: Die große Transformation eröffnet neue Märkte, neue Geschäftsfelder und vielversprechende Zukunftschancen.
„Die Transformation der Textilindustrie ist eine Herausforderung, die wir nur gemeinsam meistern können. Die textilverarbeitende Industrie entwickelt dafür innovative und zukunftsweisende Technologielösungen in den Bereichen Digitalisierung, Automatisierung und KI, die wirtschaftlichen Erfolg und ökologische Verantwortung miteinander in Einklang bringen.“
Key Learnings
Nachhaltigkeit und Regulierung als Treiber: Regulierungen, vor allem von der EU, fordern verbindliche Sozial- und Umweltstandards, transparente Lieferketten sowie nachhaltige Produktionsprozesse in der Textil- und Bekleidungsindustrie.
Digitalisierung als Enabler: Zur Erfüllung neuer Dokumentationspflichten werden digitale Technologien wie Blockchain, IoT und KI entscheidend, um große Datenmengen entlang der Lieferkette zu erfassen und auszuwerten.
Veränderung von Unternehmensstrukturen: Nachhaltigkeitsanforderungen betreffen alle Unternehmensbereiche und schaffen neue Berufsbilder. Der demografische Wandel und der Fachkräftemangel bieten der Branche eine Chance, sich als innovativer und nachhaltiger Arbeitgeber neu zu positionieren.
„Texpertise Econogy Insights“
Die aktuellen „Texpertise Econogy Insights“ geben Antworten auf Fragen wie: Welche SDGs sind in der Branche besonders relevant? Was sind die Top 5 Transparenz-Standards? Wie stehen sich Naturfasern und synthetische Fasern gegenüber? Welche Prozessstandards sind am weitesten verbreitet? Wo steht die Branche in Sachen Textilrecycling?
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Quellen:
1 Euratex, 2024, “Facts and Key Figures in the European Textile Industry 2024” 2 OEC Daten, 2023 3 Euratex, 2024, “Manifesto for the European Elections 2024” 4 Gesamtverband textil + mode, 2019, Blogbeitrag „Fachkräftemangel vorsorgen – Fachkräfteanwerbung aus der EU“