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Als das Naturfaserhandelshaus Wilhelm G. Clasen (WGC) 1919 in Hamburg gegründet wurde, lag der Anteil von Naturfasern am globalen Fasermarkt bei fast 100 Prozent. Seitdem hat sich der Markt tiefgreifend verändert. Naturfasern konkurrieren heute mit Kunstfasern um Marktanteile, müssen sich gegen Preisdruck, die Folgen des Klimawandels und neue Anforderungen in Lieferketten behaupten – und finden gleichzeitig ihren Weg in technische Anwendungen wie Composites und Drohnen. Im Texpertise-Interview spricht WGC-Geschäftsführer Thomas Bressler über 100 Jahre Naturfaserhandel, havarierte Naturfaser-Frachtpartien, hartnäckige Branchenmythen und die Zukunft der Naturfaserbranche.
Herr Bressler, was genau macht WGC – und wie kamen Sie selbst zu den Naturfasern?
Wir sind die Schnittstelle zwischen dem einzelnen Bauern, der Naturfasern anpflanzt, den Weiterverarbeitern und den Konsumenten. Begonnen hat für WGC alles 1919 mit Rohjute, später kamen Kenaf und Sisal dazu. Heute gehören auch Abacá, Hanf, Baumwolllinters, Kapok, Kokos und Nischenfasern wie Ananas- oder Nesselfasern zum Portfolio. Unsere Fasern beziehen wir aus vielen Teilen der Welt, beispielsweise aus Indien, Bangladesch, Ecuador, Brasilien, Ostafrika oder Indonesien. Wir sorgen auch dafür, dass die Welt um die Wichtigkeit nachwachsender Naturfaserrohstoffe weiß. Ich selbst war vorher im Gewürzhandel tätig. Mein erster Kontakt mit Naturfasern waren tatsächlich Jutesäcke für Chillies. Als ich dann 2011 bei WGC anfing und erkannte, wie komplex dieser Bereich ist, konnte ich mich der Faszination Naturfaser nicht mehr entziehen. Auch nach mehr als 14 Jahren lerne ich noch täglich dazu.

Wie hat sich der Handel mit Naturfasern in den letzten 100 Jahren verändert?
Als WGC anfing, gab es in Europa noch eine funktionierende Textilindustrie, die große Mengen unverarbeiteter Naturfasern importierte und vor Ort verarbeitete. Allein Deutschland importierte vor 1914 jährlich über 120.000 Tonnen Jute. Im Laufe der Zeit hatten viele Krisen wie Hyperinflation, Ölschocks und die Asienkrise Einfluss auf das Geschäft mit Naturfasern. Aber es waren vor allem drei Faktoren, die alles verändert haben: die Umstellung von Stückgut- auf Containerbefrachtung Ende der 1960er-Jahre, die Abwanderung der Textilindustrie nach Asien und die Einführung von Polypropylen in den 1950er-/1960er-Jahren und damit einhergehend die Umstellung von naturfaserbasierten Verpackungsmaterialien auf Kunstfaseralternativen. Das war einschneidender als alle Wirtschaftskrisen zusammen, denn damit war auf einen Schlag ein riesiger Absatzmarkt für Naturfasern verloren.
Welche Erfahrungen und Erkenntnisse hat WGC in über 100 Jahren Naturfaserhandel gewonnen?
Eine zentrale Erkenntnis ist sicher die, dass es für fast alle Anwendungen eine Naturfaseralternative gibt – und manchmal sogar mehrere –, obwohl man dachte, dass dort nur Kunstfasern geeignet sind. Ich möchte aber betonen: Um die großen Herausforderungen der kommenden Jahre zu meistern und nachhaltigere Produkte zu entwickeln, wird das Zusammenspiel aus Naturfasern, Recycling-Fasern und Man-Made-Fasern entscheidend sein. Strategische Kooperationen waren und sind deshalb in der Welt der Naturfasern sehr wichtig, um gemeinsam erfolgreich zu sein.
WGC hat eine besondere Geschichte mit „havarierten Partien“ – was ist das?
Havarierte Partien sind Naturfasern, die aus Seeunglücken stammen oder Transportschäden erlitten haben. Unser Firmengründer Wilhelm G. Clasen und später sein Sohn und Nachfolger Peter Clasen verstanden es meisterhaft, sich geborgener Fracht anzunehmen, sie aufzuarbeiten und wieder in den Verkehr zu bringen. Dieser aufwendige Prozess umfasste das Sortieren, Trocknen und Begutachten der Ware, um zu entscheiden, für welchen Einsatzzweck die havarierten Partien noch infrage kamen.
Welche Kunden beliefert WGC heute mit Naturfasern?
Unser Kundenstamm spiegelt die Vielfalt der Anwendungsbereiche von Naturfasern wider und reicht vom Kleinstbetrieb bis zum Weltkonzern, vom Hersteller von Dekorationsartikeln bis zum Zellstoffproduzenten. Mit vielen von ihnen verbindet uns eine jahrzehntelange Zusammenarbeit. Es gibt aber auch neue Kunden wie Start-ups, die Naturfaser-Composites für Drohnen für die Landwirtschaft entwickeln. Eines vereint jedoch all unsere Kunden: die Leidenschaft für Naturfasern.
Welche Branchen setzen traditionell auf Naturfasern und wo sehen Sie das stärkste Wachstum?
Traditionelle Abnehmer, die der Naturfaser bis heute treu geblieben sind, sind die Tauwerk- und Teppichindustrie sowie die Verpackungsmittelbranche – Kaffee- und Kakaobohnen beispielsweise werden bis heute in Jutesäcken verpackt, auch wenn viele Erzeugnisse mittlerweile in Containerlinern transportiert werden. Auch in der Landwirtschaft finden Naturfasern nach wie vor großen Absatz, etwa als Ernte- und Bindegarn. Der wichtigste Wachstumsmarkt ist wohl die Baustoffindustrie. Hier kommen Kunden bereits heute auf uns zu, um an Entwicklungen zu arbeiten, in denen Naturfasern als Ergänzung oder als Ersatz für Kunstfasern zum Einsatz kommen sollen.
„Der wichtigste Wachstumsmarkt ist wohl die Baustoffindustrie. Hier kommen Kunden bereits heute auf uns zu, um an Entwicklungen zu arbeiten, in denen Naturfasern als Ergänzung oder als Ersatz für Kunstfasern zum Einsatz kommen sollen.“
Grundsätzlich sehe ich Naturfaser-Potenzial aber bei allen Industrien, die ihren CO2-Fußabdruck verbessern wollen oder müssen. Auch die Bereiche Auto, Composites, Zellstoffproduktion sowie Kosmetik und Medizin werden immer interessanter.
Wie wird sich der globale Naturfasermarkt in den nächsten Jahren entwickeln?
Der Naturfaserhandel befindet sich in einer Zeit des Wandels. In den letzten Jahren hat sich für Naturfasern ein großer Zukunftsmarkt fernab etablierter Anwendungsbereiche aufgetan. Vieles wird in Zukunft davon abhängen, wie erfolgreich Naturfasern in Industriezweigen integriert werden, die heute noch keine nutzen. Gelingt dies und bleibt das allgemeine Bewusstsein für die Notwendigkeit nachhaltiger Rohstoffe vorhanden, sehe ich eine sehr positive Entwicklung für Naturfasern.
Wenn WGC der Textilbranche eine einzige Erkenntnis aus über 100 Jahren Naturfaserhandel mitgeben dürfte – welche wäre das?
Sicherlich die, dass sich die Naturfaserbranche über all die Jahrzehnte hinweg immer wieder neu erfunden hat – manchmal aus der Not heraus, meist aber aus eigenem Innovationsantrieb. Diese Anpassungsfähigkeit in Zeiten des Erfolgs sowie in schwierigen Zeiten zeugt von einer hohen Resilienz und von einer Daseinsberechtigung, die auch in 100 Jahren noch bestehen wird.
Herr Bressler, vielen Dank für das Gespräch.