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Der menschliche Tastsinn ist komplex und einzigartig. Auf jedem Quadratzentimeter der Fingerkuppen befinden sich ungefähr 150 verschiedene Tastrezeptoren. Sie können winzigste Erhebungen wahrnehmen, die gerade einmal 0,006 Millimeter hoch sind. Zum Vergleich: Die nominale Höhe eines Braille-Punkts in der gleichnamigen Blindenschrift beträgt 0,48 Millimeter.
Es gibt Sensoren, die registrieren, wie schnell die Haut eingedrückt wird. Andere nehmen ausschließlich Vibrationen wahr und wiederum andere können die Dehnung der Haut fühlen. Nerven übertragen diese Wahrnehmungen an das Gehirn, das sie zu einem subjektiven Gesamteindruck des Gefühls einer Oberfläche zusammensetzt. All das passiert unbewusst und kann nicht gesteuert werden. Die Komplexität des Prozesses erklärt, warum es lange Zeit nicht gelang, ein Messgerät zu konstruieren, das den gesamten Tastsinn digitalisieren und damit objektivieren konnte.
Menschliches Empfinden in Zahlen übersetzt

Es gibt bereits Messgeräte, die Teilbereiche der Haptik einer Oberfläche detektieren können. Sie scannen die Textilie ein und legen quasi eine topografische Karte von der Oberflächenstruktur an. Doch nicht nur Höhen und Tiefen einer textilen Oberfläche sind für die Erfassung des Handgefühls wichtig, sondern auch ihre Komprimierbarkeit. Berührt eine menschliche Hand etwas, entsteht ein leichter Druck. Diese Mikrokompressivität, die ungefähr bei 100 Millinewton liegt, spielt für die Wahrnehmung eine wichtige Rolle. Ein optisches Verfahren wie ein Scan kann sie nicht erfassen. Einer Firma aus Leipzig ist es gelungen, ein Gerät zu entwickeln, das mehrere Bereiche der Haptik erfasst und digitalisiert. „Unser Tactile Sensation Analyzer (TSA) kann das gesamte Spektrum des Tastsinnes darstellen und ihm einen objektiven Zahlenwert zuweisen“, erklärt Alexander Grüner, Global Business Development Manager bei der Firma emtec Electronic GmbH.
Der Klang der Weichheit
Interessanterweise war der Schlüssel zu dieser Technologie weder der Tastsinn noch die Optik – sondern das Gehör. Der Erfinder des innovativen Messgerätes ist der Physiker Giselher Grüner, der Vater von Alexander Grüner und Gründer von emtec Electronic. Er sollte ein Messgerät für die Haptik von Toilettenpapier entwickeln. „Mein Vater saß wochenlang in seinem Büro und tastete immer wieder die verschiedensten Toilettenpapiere ab“, erzählt Alexander Grüner. „Irgendwann ist ihm aufgefallen, dass sich nicht jedes Toilettenpapier beim Darüberstreichen gleich anhört.“ Eine Erkenntnis, die Grüner Senior auf die Idee brachte, die zwei wichtigsten Parameter der Haptik – Oberflächenweichheit und Oberflächenrauigkeit – mit einem Mikrofon zu messen. Nach fünf Jahren Entwicklungszeit war der TSA marktreif. Inzwischen wird er fast in der gesamten Papierindustrie eingesetzt. 2016 kamen Vater und Sohn Grüner auf die Idee, den TSA auch für die Textilindustrie nutzbar zu machen.

Vom Rotor ins Ohr
Und so funktioniert das Gerät: Eine Stoffprobe wird über einen Zylinder mit einem Hohlraum gespannt, an dessen Boden sich ein Mikrofon befindet. Über der Probe ist ein Rotor mit einem Messkopf angebracht. Der Rotor hat acht Blätter (Blades), an denen sich ein weiteres Mikrofon befindet. Wird das Gerät gestartet, senkt sich der Messkopf mit dem Rotor auf die Textile, bis ein Druck von 100 Millinewton erreicht ist – der Druck, der entsteht, wenn eine menschliche Hand etwas berührt. Sobald sich der Rotor über der Stoffprobe dreht, entstehen zwei Arten von Vibrationen – die der Probe selbst und die der Rotorblätter. Das Geräusch, dass das Vibrieren der Stoffprobe auslöst, wird vom Mikrofon am Boden des Zylinders aufgenommen. Es gibt die Rauigkeit der Textilie wieder: je lauter das Geräusch, desto rauer ist die Probe.
Ökologisches Potenzial
Ein solches haptisches Messgerät könnte die Massenproduktion von Stoff deutlich beschleunigen und kostengünstiger sowie ressourcenschonender gestalten. Das Potenzial ist enorm. Denn um in der Massenproduktion das Handgefühl der Textilie zu erzeugen, das der Designer vorgegeben hat, werden Stoffproben zwischen der Modemarke und dem Standort der Stofffabrik hin- und hergeschickt. Vier bis fünf Durchläufe sind keine Seltenheit. Das kann gut ein halbes Jahr dauern und – auf die Branche hoch skaliert – mehrere Milliarden US-Dollar kosten. Der TSA etwa könnte diesen Prozess auf ein bis zwei Wochen verkürzen. Die Stoffhersteller könnten mit ihm laufend das Handgefühl der Produktion überprüfen und diese über eine Cloudlösung, der Virtual Haptic Library, mit dem Designer abstimmen. Tonnen von fehlproduzierten Stoffen könnten so vermieden werden. „Auf der Handfell-Skala, die von 1 bis 100 die Unterschiede im Gesamtgefühl misst, fühlt der Mensch erst ab ein oder zwei Handfell-Punkten einen Unterschied in der Haptik. Jede Verbesserung, die unter diesem Wert liegt, bedeutet die Verschwendung von Ressourcen, da sie der Mensch nicht wahrnimmt“, erklärt Alexander Grüner.
Ausgezeichnete Innovation

Das Erfolgspotenzial wird durchaus wahrgenommen: So wurden der Tactile Sensation Analyzer und die Cloudlösung Virtual Haptic Library 2024 mit dem Techtextil North America Innovation Award in der Kategorie „Neues Produkt“ ausgezeichnet.