Als wir Birgit Sattler per Videoanruf erreichen, sitzt sie gerade in einem Hotel in Kapstadt fest. „Leider haben wir noch keine Starterlaubnis“, sagt sie. Wäre alles nach Plan verlaufen, säße die Mikrobiologin vom Institut für Ökologie an der Universität Innsbruck längst im Flugzeug auf dem Weg zum rund 4.500 Kilometer südlich von Kapstadt gelegenen Untersee, einem der größten Süßwasserseen der Antarktis.
Dort will sie im Rahmen eines zweimonatigen Forschungsaufenthalts nach Spuren menschlicher Einflüsse im Eis suchen, etwa nach Pestiziden, Antibiotikaresistenzen oder Mikroplastik. Doch weil das Wetter dort gerade so schlecht ist, kann das Flugzeug nicht landen. „Wir wollen ja nicht von der Scholle rutschen“, scherzt Sattler.
Deshalb hat sie jetzt auch etwas Zeit, um mit uns über ein Thema zu sprechen, das den Großteil ihrer Forschungsarbeit ausmacht: Gletscher. Seit mehr als 30 Jahren ist Sattler in den Polargebieten und in alpinen Regionen überall auf der Welt unterwegs, um die sensiblen Ökosysteme rund um die Gletscher zu erforschen. Dazu gehören auch die Auswirkungen der Klimakrise. Und die sind dramatisch.
Hälfte aller Gletscher könnte bis 2100 verschwinden
Laut einer Studie, die 2023 in „Science“ veröffentlicht wurde, könnten bis zum Jahr 2100 fast die Hälfte der weltweit 215.000 Gletscher schmelzen. Bei einer geschätzten Gletschergesamtfläche von 700.000 Quadratkilometern bedeutet das: Steigen die Temperaturen weiter wie bisher, könnten bis zum Ende des Jahrhunderts Gletscher von der Größe ganz Deutschlands (357.592 Quadratkilometer) verschwunden sein. „Die Folgen wären rund um den Globus zu spüren“, sagt Forscherin Sattler.
Auch Berndt Köll ist bei dem Videotelefonat mit dabei. Er arbeitet bei der Lenzing AG, einem weltweit führenden Hersteller von Zellulosefasern aus Holz. Die biologisch abbaubaren Fasern von Lenzing stecken unter anderem in Bekleidung, Bettdecken, Möbelstoffen, Hygieneartikeln und bieten dort eine Alternative zu erdölbasierten Fasern, zum Beispiel aus Polyester. Köll arbeitet im Bereich „Emerging Business“ und ist stets auf der Suche nach neuen Anwendungen für die holzbasierten Fasern von Lenzing.
Als er 2021 in einem Bergmagazin zufällig auf einen Artikel über die dramatische Situation der Alpengletscher stieß, erinnert sich Köll, sei er schockiert gewesen. „Ich komme aus Tirol, bin also quasi unter Bergen aufgewachsen. Aber mit welcher Geschwindigkeit die Alpengletscher inzwischen schmelzen, das war mir nicht bewusst.“ Die Autorin des Artikels? Birgit Sattler. Köll rief daraufhin die Mikrobiologin an, fragte: Wäre das ein Einsatzgebiet für die Zellulosefasern von Lenzing – ein Geotextil, mit dem man Gletscher abdeckt und so vor dem Abschmelzen schützt?
Weiteres Problem für Alpengletscher: Mikroplastik
Dazu muss man wissen: Die Methode, Gletscher in alpinen Regionen mit Geotextilien abzudecken, ist nicht neu. „Viele Gletscherskigebiete in Österreich, Italien, Norwegen und in der Schweiz legen im Sommer Geotextilien in Form weißer Teppiche über Eis- und Schneeflächen, um deren Abschmelzen zu verhindern oder zumindest zu verlangsamen“, erklärt Köll. Oft handelt es sich dabei um Gewebe oder Vliesstoffe aus Kunststofffasern wie Polypropylen.
Solche Geotextilien stammen aus dem Gebäude-, Gleis- und Straßenbau, wo sie etwa Böden mit geringer Tragfähigkeit stabilisieren und vor allem wegen ihrer wasserabweisenden Eigenschaften geschätzt werden. Diese seien wichtig, sagt Köll, denn ein Geotextil, das beispielsweise unter einer Straße verlegt werde, um diese zu stabilisieren, dürfe sich beim Kontakt mit Wasser nicht auflösen. „Haltbarkeit hat bei Geotextilien aus Sicherheitsgründen oft oberste Priorität“, so Köll.
Legt man aber ein Geotextil aus Kunststofffasern auf einen Gletscher, kann dabei offenbar ein unerwünschter Nebeneffekt auftreten, wie Mikrobiologin Sattler berichtet: „Wir haben bei Untersuchungen rund um einen Alpengletscher, wo Geotextilien ausgelegt wurden, Mikroplastik gefunden.“ Weil Textilien auf Gletschern der rauen Witterung ausgesetzt seien, erklärt Sattler, können Wind und Regen Fasern freisetzen.
Sie und ihr Team fanden selbst im Tal unterhalb des Gletschers noch Faserreste. Offenbar waren sie über das in Bächen talwärts fließende Schmelzwasser dorthin gelangt. „Das zeigt: Klassische Geotextilien sind inkompatibel mit sensiblen Hochgebirgssystemen“, sagt Sattler. Denn einmal im Wasserkreislauf, so die Forscherin, gelangten die Partikel möglicherweise auch in die Nahrungskette des Menschen.
Biologisch abbaubares Geovlies vs. klassisches Geovlies
Es ist paradox: Einerseits funktioniert die Methode, Eis und Schnee mit Geotextilien zu schützen, andererseits zeigen Sattlers Untersuchungen, dass dadurch Mikroplastik in die empfindlichen Ökosysteme rund um die Gletscher gelangen kann. Mikrobiologin Sattler und Textiler Köll stellten sich deshalb der Frage: Lassen sich Gletscher umweltverträglich mit Geotextilien schützen?
Gemeinsam entwickelten sie die Idee, aus Lenzings Zellulosefasern ein biologisch abbaubares Geovlies herzustellen, das die Gletscher schützen soll, ohne Mikroplastik freizusetzen. Dafür holten sie sich unter anderem die Firma Naue an Bord, die aus den Zellulosefasern von Lenzing vier Meter breite Vliesbahnen fertigte.
"Am Ende des Versuchs waren wir baff"
Im Sommer 2022 startete der erste Feldversuch: Am Stubaier Gletscher in Österreich bedeckte das Duo aus Gletscherforschung und Textilpraxis ausgewählte Eisflächen mit dem neuartigen Bio-Vlies. Über den Sommer beobachteten sie das Schmelzverhalten des Eises. „Am Ende des Versuchs waren wir baff“, erinnert sich Sattler. Der Grund: Während das Eis rund um die textile Testfläche fast vollständig geschmolzen war, blieb unter dem neuartigen Geovlies eine rund vier Meter dicke Eisschicht erhalten. Für Sattler ist es „eine Kehrtwende beim Gletscherschutz mit Textilien“, denn der Versuch habe gezeigt, dass die Isolierleistung des biologisch abbaubaren Gletschervlieses mit der eines klassischen Geotextils mithalten könne.
„Die Zusammenarbeit mit Textilfirmen wie Lenzing ist für uns ein Gamechanger“, sagt Sattler am Ende des Gesprächs. Als Forscherin könne sie zwar die Folgen der Klimakrise für die Gletscher dokumentieren. Aber wie man innovative Textilien entwickelt, um deren Abschmelzen aufzuhalten oder zu verlangsamen, dafür brauche es textile Partner. „Wir sind Wissenschaftler, keine Materialentwickler“, sagt sie. Noch zu Beginn des Feldversuchs habe sie das Ganze für ein Nischenthema gehalten. „Inzwischen aber habe ich das Gefühl, dass man mit nachhaltigen Geotextilien wirklich was verändern kann.“
Fotos: Birgit Sattler/Uni Innsbruck